Celenus Klinik an der Salza Gebäude

Chronischer Tinnitus in der psychosomatischen Rehabilitation

Dr. med. Kathrin Zittlau, Dr. med. Sabine Pöltz, Anette Lehmann

In der Behandlung von Tinnitus-Patienten hat die psychosomatische Rehabilitation einen wichtigen Stellenwert als motivationsfördernder Koordinator der verschiedenen anderen Behandlungsformen und als eigene Therapieform mit Unterstützung der Erkrankten bei der Krankheitsbewältigung samt Entwicklung einer beruflichen Perspektive und verbesserter psychosozialer Teilhabe inne. In der Regel reichen für die etwa drei Millionen Tinnitus-Patienten in Deutschland ambulante ärztliche oder psychologische Therapieverfahren aus, um eine Stabilisierung der individuellen Krankheitssituation zu erreichen (kompensierter Tinnitus). Nur einer kleinen Gruppe von Erkrankten kann ambulant nicht ausreichend geholfen werden. Die Ohrgeräusche haben dann schwerwiegende Beeinträchtigungen zur Folge. Die Patienten sind durch ihre quälenden Ohrgeräusche so massiv belastet, dass ein erheblicher Leidensdruck entsteht, der ohne fremde Hilfe nicht oder nicht mehr bewältigt werden kann (dekompensierter Tinnitus). Hier ist dann eine stationäre Rehabilitation indiziert. Daten der DRV Bund aus 2001 geben etwa 7.500 stationären Patienten pro Jahr in Deutschland an. Das wären 0,5 Prozent aller Patienten, die unter einem chronischen Tinnitus leiden. 

Grafik Tinnitus

Für die Punkte 1, 5 und 7 in Abbildung 1 mit massiver Hörminderung sollte die Rehabilitation unter Federführung der HNO-Heilkunde durchgeführt werden. Entsprechend spezialisierte Kliniken sind auf der Website der Tinnitus-Liga zu finden. Alle anderen Indikationen können gut durch eine psychosomatische Rehabehandlung abgedeckt werden, da die hier verfügbaren vielschichtigen Behandlungsansätze besonders gut geeignet sind, um Probleme der chronisch Tinnitus-Kranken im Umgang mit ihrer Erkrankung aufzugreifen und beginnend zu behandeln. Dazu wird die Auseinandersetzung des Erkrankten mit den seine Tinnitus-Erkrankung chronifizierenden Faktoren in Gang gesetzt. Zu den zuträglichen Vorbedingungen des rehabilitativen psychosomatischen Settings gehört das Vorhandensein eines klar vom Lebensalltag getrennten und geschützten Behandlungsraums (Rahmen). Durch diesen Abstand von Alltagsanforderungen und -belastungen wird dem Erkrankten oft erst ermöglicht, sich intensiv mit seinen häufig emotional belastenden Krankheitszusammenhängen zu beschäftigen. Weiter schafft die parallele Verordnungsmöglichkeit von aktivierenden und regressionsfördernden Therapieverfahren eine Grundlage für die Ermittlung tatsächlich für den Erkrankten hilfreich wirksamer Behandlungsansätze. Später kann dann für diesen Patienten bewusst ein Schwerpunkt in einem der beiden Bereiche gesetzt werden. Die gleichzeitige Präsenz von körperlicher Behandlungsmöglichkeit durch einen Arzt und psychologisch-psychotherapeutischer Begleitung durch einen Therapeuten (in Personalunion oder als Behandlungs-Kleinteam) gestattet, dass mit dem Patienten gemeinsam die körperlichen und seelischen Anteile seines Krankheitsgeschehens verstanden und integrierend zusammengesetzt werden können. Die Anwesenheit eines HNO-Arztes im Behandlungsteam oder mindestens eine Konsiliarmöglichkeit bei Bedarf ist wünschenswert. Andere therapeutisch nützliche Faktoren sind die begleitend stattfindenden Einzelgespräche, eine psychoedukative Tinnitus-Gruppe, Vorträge zum Thema Krankheitsbewältigung, der Einsatz von Entspannungsverfahren, die Sporttherapie und die ohnehin üblichen rehabilitativen Angebote (z. B. Diätberatung und -verordnung, Lehrküchenveranstaltungen, Sozialberatung). Besonders hervorzuheben sind kreativtherapeutische Angebote (Körpertherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie) zur Ausdrucksverbesserung von Affekten bzw. zur Erhöhung der Fähigkeit von unvoreingenommener Selbstwahrnehmung des Patienten (Leistungsgrenzen, aber auch Leistungsvermögen vor der Tinnitus-Erkrankung und jetzt etc.) und der angeleiteten Beschäftigung mit dem führenden Krankheitssymptom (Tinnitus, Schwerhörigkeit, Gleichgewichtsstörung u. a.) sowie die Entwicklung und das Einüben von Möglichkeiten der eigenen aktiven Einflussnahme auf die Symptomintensität und das Training von Kompensationsmöglichkeiten. Bei Letzterem haben die TRT-Retrainingstherapie, die Musiktherapie und die Ergotherapie einen wichtigen Platz eingenommen. Grundbedingung für die effektive Einbeziehung des Themas der Krankheitsverarbeitung in die psychosomatische rehabilitative Behandlung ist die konsequente Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts während des gesamten Behandlungsverlaufes. Was bedeutet, den damit verbundenen besonderen Blickwinkel in der Aufmerksamkeit von Behandlerseite aus vom Erstkontakt im Aufnahmegespräch durchgängig bis zur Verabschiedung und Weiterbehandlungsempfehlung beizubehalten. Spricht man in der rehabilitativen Fachsprache von einem „Doppelfokus“ (Lindner, 1990), weil regelhaft neben medizinisch-therapeutischen auch sozialmedizinische Fragestellungen für den und mit dem Rehabilitanden beantwortet werden müssen, kommt nun bei einigen der Patienten als dritter Fokus der der Krankheitsverarbeitung dazu. Überlegungen, wie man den Patienten die inhaltliche Beschäftigung mit für ihren Umgang mit der Tinnitus-Erkrankung relevanten Teilaspekten durchgängig besser ermöglichen kann, haben in der klinischen Umsetzung in einigen Rehakliniken zu konzeptionellen Anpassungen geführt. Dabei sind Tinnitus-spezifische Therapiebausteine entstanden: Dazu gehört ein inhaltlich passendes psychoedukatives Angebot (Counceling), um den Patienten Wissen über ihre Erkrankung und aufrechterhaltende Wirkfaktoren zu vermitteln, damit sie die eigenen Krankheitszusammenhänge verstehend erfassen und unter therapeutischer Anleitung gesundheitsförderlich verändern können. Diese Wissensvermittlung erfolgt in (Manual-gestützten) Kleingruppen, mittels Vorträgen, individuell in der Sprechstunde oder auch parallel in mehreren davon. In den in Seminarform stattfindenden Gruppen kann mit den Erkrankten sehr gut an ihrem jeweiligen Krankheitsverständnis (individuelles psychosomatisches Krankheitsmodell) gearbeitet werden. Fragen der Erkrankten haben Platz und können beantwortet werden. Es gibt Raum für einen Austausch untereinander. Die Erfahrungen der Patienten können aufgegriffen und wertgeschätzt werden. Danach öffnet sich im Allgemeinen ein Weg in die Lösungsorientierung. Somit können auf einer noch allgemein theoretischen Ebene mögliche Lösungsansätze, Therapietechniken und hilfreiche Unterstützungsansätze vorgestellt und miteinander diskutiert werden und eine persönliche Ressourcenaktivierung nach sich ziehen. Das erleichtert im Weiteren die Verständigung mit den Patienten in den Sprechstunden (medizinisch wie therapeutisch) und schafft darüber hinaus eine stabilere Grundlage für die begleitend stattfindende einzeltherapeutische Arbeit. Hier kann der Erkrankte dann selbst und aktiv Inhalte aus den Vorträgen wieder aufgreifen, oder der Therapeut kann sich darauf beziehen, und sie können vertieft und individualisiert werden. Zu unserem Tinnitus-Behandlungskonzept gehört weiter die Aufnahme der Patienten in eine halboffene Kombigruppe. Diese setzt sich aus zwei Teilgruppen zusammen: eine Gesprächstherapiegruppe (tiefenpsychologisch fundiert oder verhaltenstherapeutisch orientiert) und als Zweitverfahren eine Tinnitus-zentrierte Körpertherapiegruppe. Die beiden Gruppen-verfahren wechseln sich im zeitlichen Verlauf täglich ab, wobei die personelle Zusammensetzung der Patienten in beiden Gruppen gleich bleibt, die Gruppenleitung aber verfahrensbezogen wechselt. Die beiden Gruppentherapeuten der Kombigruppe leiten während des Aufenthaltes der Patienten möglichst konstant die Gruppe und tauschen sich untereinander laufend über den Gruppenverlauf aus, sodass der Informationsfluss auf der Therapeutenebene gewährleistet ist. Durch dieses kombinierte Gruppenangebot kann der Tinnitus-Patient inhaltlich zunächst eher sprachlich in seine Krankheitsthematik einsteigen und sich den konkreten körperlichen Auswirkungen später zuwenden oder anders herum. Die Verbindung zwischen Körpergefühl und Ausdrucksmöglichkeit wird durch den Wechsel der Betrachtungsebene (rational, körperlich) in den beiden Gruppen bei Beibehaltung des inneren Fokus (Tinnitus) unterstützt. So kann der Patient Fertigkeiten zur verdichtenden und externalisierenden Umsetzung seiner durch den Tinnitus veränderten körperlichen Befindlichkeit und der dazugehörigen Gefühle und Gedanken in Symbole entwickeln. Das ist ein wertvoller Zwischenschritt in der Krankheitsverarbeitung. Daran kann sich dann der Vorgang der mentalisierenden Versprachlichung („Das Finden eines Ausdrucks für …“) der individuell anzutreffenden krankheitsbezogen veränderten Gegebenheiten anschließen. Erst jetzt existiert eine der wichtigsten Voraussetzungen, um mit dem Erkrankten über die Belastungen durch seine Erkrankung oder durch den Behandlungsverlauf auf einer potenziell therapeutisch wirksamen Ebene ins Gespräch kommen zu können. 

Die Körpertherapie stellt eine gute Möglichkeit dar, den Patienten einen alternativen Umgang mit ihren Ohrgeräuschen zu ermöglichen. Der Erkrankte macht seine Erfahrungen mit dem störenden Körpersymptom Ohrgeräusch unmittelbar und im eigenen Körper. Das muss bei der Arbeit mit strukturschwachen und instabilen Patienten berücksichtigt werden. Gegebenenfalls sind hier Anpassungen im Setting vorzunehmen, um auch dieser Patientengruppe einen nutzbringenden Zugang durch das Verfahren zu ermöglichen. Die Fixierung des Erkrankten auf das störende, ihn belastende Geräusch, ob durch Beobachtung oder das wiederholte Sprechen darüber, führt gleichzeitig zu seiner verstärkten Wahrnehmung. Subjektiv wird es dann als lauter wahrgenommen, obwohl das Gegenteil erhofft wird. Dass der Körper mehr zu bieten hat als den Tinnitus, wird darüber oft vergessen. So hilft dem Tinnitus-Kranken zunächst eine therapeutisch geleitete Wahrnehmungslenkung, seinen Tinnitus wieder neben anderen Körperwahrnehmungen einzuordnen. Das Ziel ist, den Tinnitus so allmählich in den Hintergrund treten zu lassen. Vielleicht darf er sogar vergessen werden. Körperwahrnehmungs- und Achtsamkeitsübungen, Klangtherapie und Hörtraining, Singen und Umgang mit der eigenen Stimme im weiteren Sinne sind dabei vielversprechende Therapie-formen. Da die muskuläre Spannung bei den meisten Patienten hoch ist und die innere Ruhe fehlt, sind parallel anzuwendende Entspannungsverfahren wichtig und von großem Nutzen. Kann der Erkrankte in der Therapie die Erfahrung einer erfolgreichen Selbstregulierung machen, nimmt das Gefühl von Ohnmacht und Angst dem Symptom gegenüber ab. Die so erarbeiteten Übungen können dann vom Erkrankten in den Alltag transferiert werden. 

Inhaltlich Patientengruppen nach ihrem führenden Krankheitsbild (Tinnitus) zusammenzufassen, war ein aus der Praxiserfahrung resultierender Entschluss. Dies schien logisch, weil es eine große thematische Ähnlichkeit auf der Ebene des resultierenden Leidensdrucks der so zusammengefassten Patientengruppen gibt: Sie erfolgt aus dem gemeinsamen Erleben erheblicher Einschnitte in den bisherigen Lebensablauf und den resultierenden Belastungen durch die lang anhaltenden bis chronisch voranschreitenden Funktionseinschränkungen. Das führt zu der für den Verarbeitungsvorgang nützlichen Voraussetzung, dass unter allen Gruppenteilnehmern ein grundsätzliches Verständnis für die gemeinsam erlebten Belastungen und die resultierenden Verarbeitungsthemen vorliegt. Es handelt sich um eine „homogene Gruppe“ mit den von Tschuschke et al. in „Praxis der Gruppenpsychotherapie“ (1999) beschriebenen gruppentherapeutischen Wirkfaktoren. Mit Chronifizierung bezeichnen wir Entwicklungen im Umgang mit der Tinnitus-Erkrankung, die anstatt zur Gesundung beizutragen letztendlich zur Krankheitsverfestigung führen. Der Chronifizierungsvorgang dauert nach neueren Erkenntnissen (Egle, 2018) nur etwa drei Monate. Pathologische organische Veränderungen und psychosoziale Einflüsse sind an diesem Prozess gleichermaßen beteiligt. Dabei geht das zunächst durch einen alleinigen und relativ konkreten Auslöser entstandene Tinnitus-Symptom in eine viel komplexer bedingte Tinnitus-Erkrankung über. Das dabei entstehende Geflecht der mit dem Tinnitus zusammenhängenden Verknüpfungen (Übertragungen, Lernergebnisse) wird mit zunehmender Dauer des Bestehenbleibens desselben immer dichter. Das vorgestellte Tinnitus-Konzept ist nun von vorneherein enger fokussiert als die übliche Rehamaßnahme und koordiniert einen konsequent integrativen Einsatz aller zur Verfügung stehenden Therapietechniken und Behandlungsmaßnahmen mit dem Ziel, den Tinnitus-Patienten einen Ausstieg aus der Chronifizierung mit passiver Hilflosigkeit und Regression hin zu einem wieder zunehmend aktiven und selbstbestimmten Umgang mit ihrer Erkrankung und ihrem Leben zu verhelfen. Wir suchen dazu mit den Patienten nach Maßnahmen, die helfen können, die im Krankheitsverlauf erlernten Fehlverhaltens- und/oder Denkmuster zu erkennen und sie unter therapeutischer Anleitung in funktionellere zu ändern. Inhaltlich geht es um ein komplexes Behandlungsangebot zur Modifikation der vorbestehenden Krankheits- und Stressbewältigung der Tinnitus-Erkrankten. Es soll den häufig unbewussten, aber stark wirksamen Denk- und Verhaltensmustern entgegengewirkt werden, die eine Chronifizierung des Krankheitsgeschehens unterstützen (Zielke, 1994). Ein Ansatz kann zum Beispiel sein, die ganz eigene kognitive Bewertung („... es quält mich“, „... es verfolgt mich“), die der Tinnitus parallel zu seiner Wahrnehmung durch diesen Patienten erfährt, aufzudecken. Ihm bewusst zu machen, dass seine Bewertung im Weiteren dazu passende Gefühle (Ärger, Hilflosigkeit) auslöst, die wiederum als Verstärker auf „seinen Tinnitus“ in einer ganz spezifischen Art und Weise zurückwirken. 

Dieser wird in der Folge also subjektiv stärker oder schwächer als tatsächlich vorhanden wahrgenommen. Ein abschwächender Effekt durch die individuelle Bewertung wäre erwünscht und könnte therapeutisch verstärkt werden. Bei verstärkter subjektiver Tinnitus-Wahrnehmung müsste mit dem Tinnitus-Patienten verändernd daran gearbeitet werden. Einfluss auf den Chronifizierungsvorgang des Tinnitus-Geschehens nehmen zusätzlich spezifische operante Lernergebnisse und stressbedingte Veränderungen in der Reizverarbeitung in den Hörbahnen und dem auditorischen Subkortex (Jastreboff) des Erkrankten. Wie bei der Chronifizierung anderer Erkrankungen auch, generalisieren so die ursprünglich räumlich begrenzten Vorgänge durch die wachsende kognitive Vernetzung des Tinnitus mit immer neuen Reizen infolge der individuellen krankheitsgebundenen Lernvorgänge des Erkrankten und die einsetzende Aktivierung des limbischen Systems und von bestimmten Mediatoren (Interleukine, Substanz P etc.). Beides führt zu einem „Einbau“ des Tinnitus-Geschehens in komplexere Krankheitszusammenhänge. Das bedingt neben der verbesserten Anpassung des Erkrankten an seine Tinnitus-Erkrankung in unerwünschter Weise eben auch deren neuronale und mediatorische Verfestigung und hält sie somit aufrecht. Angesichts der relativ kurzen Behandlungszeiträume von fünf Wochen in der psychosomatischen Rehabilitation erhöht sich durch die beabsichtigte starke thematische Fokussierung die Wahrscheinlichkeit, trotz der Kürze der Zeit mit den Tinnitus-Erkrankten in wirksame Verarbeitungsprozesse einsteigen zu können. Angestrebt wird, den Erkrankten dabei zu helfen, ihre grundsätzlich vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten (zu denen in Belastungssituationen durch eine Erkrankung der Kontakt verloren gegangen ist) wieder ihrem Handlungsrepertoire zugänglich zu machen. Sie können dann für die Entwicklung von Lösungsansätzen und zur Bewältigung der entstandenen Stagnationskrise in der Krankheitsbewältigung genutzt werden. Eine sich möglichst zeitnah anschließende ambulante Therapie bestärkt und festigt danach die initialisierten Veränderungen und bahnt die tatsächliche Umsetzung im alltäglichen Lebensablauf der Erkrankten. 

Dr. med. Kathrin Zittlau
Dr. med. Sabine Pöltz
Anette Lehmann


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Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Kurpromenade 6–8
99947 Bad Langensalza
E-Mail: kzittlau@rehaklinikbadlangensalza.de 

Erschienen im Ärzteblatt Thüringen

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